Eine Geschichte für
Kinder ab 6 Jahren
Mit Grafiken von Anette »nedde« Kannenberg
Es war ein kühler
Sommertag, als sich die alte Wasserschildkröte Rasputin langsam und
schnaufend aus dem Meer quälte. Rasputin war schon 104 Jahre alt, und
es kostete ihn große Mühe, an Land zu schwimmen und über den heißen
Sand zu watscheln. Der erhitzte Sand brannte an seinen kleinen Füßen;
die Sandkörner quetschten sich zwischen seine Zehen, piksten und
kitzelten ihn. Dennoch wollte er auf seine Spaziergänge an der frischen
Luft nicht verzichten. So nahm er diese Strapaze alle paar Wochen auf
sich. Er achtete darauf, dass es ein wolkiger Tag war, damit die Sonne
ihm nicht allzu stark zusetzte.
Rasputin hatte schon viel erlebt in seinem
langen Schildkrötenleben. Manchmal erdrückten ihn seine Erfahrungen
und Erlebnisse. Oft hatte er das Gefühl, dass sich die Jahre auf
seinen hornigen Panzer gelegt und diesen dicker und schwerer hatten
werden lassen. Aber vielleicht waren auch nur seine kleinen Beinchen älter
und müder geworden.
Schon häufig hatte er davon geträumt,
den Panzer einfach abzuwerfen wie einen lästigen Käfer, und leichtfüßig
durch den Sand zu hopsen. Aber eine Schildkröte ohne Panzer wäre
vollkommen schutzlos. Die Sonne würde die Haut verbrennen, und Feinde,
große Vögel zum Beispiel, könnten den armen, alten Rasputin
verletzen.
Aber jetzt war es kühl, die Sonne hatte
sich hinter dicken Wolken versteckt, weit und breit war kein einziger
Vogel zu sehen. Der Strand wirkte wie ausgestorben.
Rasputin dachte daran, wie schön es sein könnte, flink durch den Sand
zu rennen. Aber mit dem schweren Panzer war das unmöglich.
Doch was war schon dabei, wenn er den
Panzer einmal abnahm? Nur für einen ganz kurzen Moment! Rasputin überlegte.
Er wollte es so schrecklich gerne einmal ausprobieren. Nur ein einziges
Mal!
Verstohlen schaute er sich um, ob sich
auch wirklich niemand in der Nähe befand. Doch er war allein. Er
blinzelte zum Himmel, um sicher zu gehen, dass die Sonne nicht doch
hervorkommen und mit ihren heißen Strahlen seinen nackten Körper
verbrennen könnte. Aber die Wolkendecke war so dicht, dass sich nicht
ein einziger Sonnenstrahl hindurchstehlen konnte. Wie sollte er nun
aus dem schweren Panzer schlüpfen? Langsam zog er seinen Kopf und seine
Beine ein, so wie es Schildkröten machen, wenn sie Angst haben.
Zusammengekauert in seinem beengten Panzer dachte er nach. Dann fing er
an, sich zu winden und zu räkeln und zu drücken und zu ziehen. Der
Panzer wackelte auf dem Sand hin und her. Plötzlich spürte Rasputin
einen leichten Luftzug an seinem Po. Diesen und ein Beinchen hatte er
hinausdrücken können. Jetzt schöpfte er neue Hoffnung und Kräfte,
die für eine so ale Schildkröte ungewöhnlich waren. Er fuchtelte mit
dem freien Fuß hin und her, während er mit den anderen dreien
versuchte, sich weiter nach draußen zu stemmen. Plötzlich ertönte ein
lautes Plopp und das zweite Hinterbein war heraus.
Rasputin freute sich.
Er war erschöpft, aber er machte weiter.
Und wieder wand er sich und drückte und stemmte, und nach einer Weile
hatte er den größten Teil seines Körper herausgezwängt. Nur der Kopf
steckte noch in der kleinen hinteren Öffnung, wo sonst nur der Schwanz
heraus schaute.
Rasputin stolperte wie ein Blinder
unsicher auf dem verlassenen Strand umher. Aber das freie Gefühl an
seinem Rücken, seinem Bauch und an seinen vier Beinchen ließ sein
altes Herz vor Freude hüpfen. Darum zog und riss er mit den
Vorderbeinen an dem Panzer herum, wälzte sich auf dem Boden hin und
her. Sein Körper war nun ganz bedeckt mit Sand, aber das störte ihn
nicht. Er wollte jetzt den Panzer los werden und wie ein junger Hund über
den Strand springen.
Und endlich: Mit einem weiteren, lauten
Plopp befreite Rasputin auch seinen Kopf.
Erstaunt schaute er um sich. Dann sah er
auf seinen Panzer, der nun regungslos neben ihm lag. Als ihm bewusst
wurde, dass er nun nackt am Strand stand, schaute er sich verstohlen um.
Aber er war immer noch allein. Darum entfernte er sich ein wenig von
seinem Panzer. Wer hätte so einen alten Panzer schon mitnehmen wollen?
Rasputin fühlte sich leicht. Eine schwere Last war von seinem Rücken
herunter gefallen.
Beschwingt sprang er über den Sand, mal
mehr nach rechts, mal nach links und bewegte sich so flink wie eine
Krabbe.
Es sah witzig aus, wie diese alte, nackte Schildkröte mit einem
freudigen Lächeln auf dem Gesicht umher hopste.
»Wie seh' ich wohl aus?«, dachte
Rasputin. Er eilte beschwingt auf das Meer zu, kletterte auf einen großen
Felsen, der aus dem Wasser herausragte und schaute kopfüber in das
dunkelblaue Meer hinein. Zuerst sah er nur einen verschwommenen Kopf,
doch dann konnte er sich erkennen. Aber mehr als ein winziges
Stück vom Hals und ein Bein
spiegelten sich in dem Wasser nicht wieder. Also beugte er sich noch ein
kleines Stückchen weiter vor, und noch ein Stück und... da war es
passiert: Rasputin fiel mit einem lauten Plumps ins Wasser. Nun war er
viel leichter. Eine kleine Strömung erfasste ihn und zog ihn ins Meer
hinaus. Die alte Schildkröte kämpfte dagegen an. Er war ein
guter Schwimmer. Doch weil sein Panzer fehlte, war er einfach nicht
schwer genug, um gegen die Strömung anzukommen. Innerlich schimpfte er
über seine Dummheit. Er war eine Schildkröte und musste sich nun mal
damit abfinden, die Last des Panzers mit sich herum zu tragen. Rasputin
war böse auf sich
.
Erst spät in der Nacht schaffte er es, an
den Strand zurück zu gelangen. Erschöpft ließ er sich schlapp auf den
Sand fallen. Er schloss die Augen. Für solche Strapazen war er zu alt.
Doch er musste seinen Panzer wieder bekommen. Müde öffnete er die
Augen. Vorsichtig schaute er sich um. Im Dunkeln konnte er ganz gut
sehen, aber scheinbar nicht gut genug, denn nirgends sah er seinen
Panzer. Mit seinen letzten Kräften rappelte er sich auf und suchte den
Strand ab. Er wühlte Löcher in den Sand, um zu sehen, ob vielleicht
der Wind den Panzer mit Sand zugedeckt hatte. Rasputin wagte sich in die
Dünen, schaute zwischen Gräser und in ein Loch, das ein Hund dort
gebuddelt hatte. Doch die Suche blieb erfolglos. Er wollte die Möwen,
die entfernt ihr nächtliches Gekreische ertönen ließen, nicht fragen.
Sein nackter, runzeliger Körper war ihm ein bisschen peinlich.
Wie sollte er jetzt weiter leben? Eine Schildkröte ohne Panzer? Gab es
das? Er hatte noch nie davon gehört. Aber es schien so, als müsste er
von nun an ohne Panzer leben. Ob er das schaffen konnte? Wie sollte er
sich vor Feinden schützen? Wie schlafen?
Müde schüttelte er seinen Kopf. Nachdem
er 104 Jahre mit der Schwere seines Panzers gelebt hatte, sollte er die
nächsten Jahre mit Leichtigkeit durchs Wasser gleiten? Rasputin würde
sich daran gewöhnen müssen. Bei Gefahren gab es genug Pflanzen und
Felsen im Meer, die ihm Schutz bieten konnten. Und an Land ging er eh
nur, wenn die Sonne nicht schien.
Eine Zeit lang dachte Rasputin darüber
nach: Es schien ihm die einzige Möglichkeit. Also schlurfte er wieder
aufs Meer zu, glitt langsam in die leichte Gischt hinein, drehte sich
noch einmal um und dachte: »Hoffentlich findet mein Panzer eine schöne,
neue Verwendung!«
Dann wandte er sich zum offenen Meer hin
und schwamm mit leichten Zügen durchs Wasser.
Den Panzer aber hatte eine junge
Landschildkröte gefunden. Erst hielt sie ihn für ihre Mama, die sie am
Tag zuvor verloren hatte. Doch als sie entdeckte, dass der Panzer leer
war, schleppte sie ihn mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften
an ein sicheres Plätzchen, staffierte ihn mit Algen und Blättern aus
und baute sich daraus ein kuscheliges Nest.